Erinnerungskultur in Gelsenkirchen

Die nach Gelsenkirchen zurückgekehrten Verfolgten schlossen sich im Sommer 1945 zu einem "Komitee ehemaliger politischer Gefangener und Konzentrationäre" zusammen. Wenig später ging daraus die "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes" (VVN) hervor. Die Organisation wollte nicht nur über die Verbrechen der NS-Zeit aufklären, sondern auch dafür sorgen, dass deren Opfer in Erinnerung blieben.
Unter dem unmittelbaren Eindruck der Schreckensherrschaft und maßgeblicher Mitwirkung der VVN entstanden in Gelsenkirchen zwischen 1947 und 1950 eindrucksvolle Gedenkorte für die Opfer des Nationalsozialismus. Ab Ende der 1940er Jahre nahm der Einfluss der VVN ab - die zunehmend von der KPD geprägte Vereinigung galt im antikommunistischen Klima des aufkommenden Kalten Krieg als verdächtig.

Alter Friedhof in Buer
Am 8. Oktober 1947 wurde das erste Mahnmal für die jüdischen Opfer nationalsozialistischer Verfolgung in Gelsenkirchen eingeweiht. [ISG]
Friedhof Horst-Süd 1954
Gedenkfeier für die jüdischen Zwangsarbeiterinnen aus Ungarn, die 1944 bei der Bombardierung des Gelsenberg-Werkes umkamen. (Das Mahnmal wurde am 11. Juli 1948 enthüllt.), [ISG]
Friedhof Horst-Süd
Seit dem 19. September 1948 erinnert ein Mahnmal an die Opfer des KappPutsches von 1920 ebenso wie an ermordete Gelsenkirchener Widerstandskämpfer der Jahre 1933 bis 1945. Die Inschrift dieses Mahnmals wurde zwei Jahre später auch für das zentrale Mahnmal im Stadtgarten übernommen. [ISG]

So trat die Erinnerung an die Opfer der Verfolgung in den 1950er Jahren zeitweise in den Hintergr und, während die vormalige Volksgemeinschaft mit der Errichtung verschiedener Mahn- und Ehrenmale das Gedenken an die eigenen Opfer hervorhob: die Gefallenen des Krieges, die Opfer des Luftkrieges und die Kriegsgefangenen. Das gerechtfertigte Anliegen, um die Toten des Krieges zu trauern, verschränkte sich dabei bisweilen mit Geschichtsmythen, die die Verbrechen des Nationalsozialismus verharmlosten oder Opfer gegeneinander aufrechneten, spiegelte sich in konkurrierenden Gedenkorten und Gedenkpraktiken.

Stadtgarten
Das am 10. September 1950 eingeweihte Mahnmal erinnert seither an alle Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. [ISG]
Stadtgarten
1956 weihte der "Verband der Heimkehrer, Kriegsgefangenen und Vermißtenangehörigen" ein Denkmal mit der Inschrift "Kriegsgefangene - Mahner der Gegenwart - Rufer der Zukunft" ein. [ISG]

Seit den 1960er Jahren setzte sich in der von der Arbeiterschaft geprägten Stadt Gelsenkirchen aber mehr und mehr die Erkenntnis durch, dass kein Weg daran vorbei ging, sich kritisch mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Am 9. November 1964 zogen etwa 1500 Mitglieder der Sozialistischen Jugend "Die Falken" mit Fackeln in einem Schweigemarsch durch Gelsenkirchen, um an die Opfer der sogenannten Reichskristallnacht zu erinnern. Horst Zeidler (1930-2001), der Bundesvorsitzende der "Falken", appellierte an diesem Tag in Gelsenkirchen an das bundesdeutsche Geschichts- und Verantwortungsbewusstsein: "Nicht aus Rachsucht, sondern um der Gerechtigkeit willen fordern wir mit aller Schärfe und Konsequenz die Verlängerung der Verjährungsfristen für die Verbrechen, begangen an unschuldigen Menschen - Kindern, Greisen, Frauen und Männern!"

Gelsenkirchen 1964
Veranstaltung zum Gedenken an die Ereignisse und die Opfer der Novemberpogrome von 1938 eine der ersten dieser Art in der Geschichte der Bundesrepublik. [ISG]

Mit ihrer Demonstration begründeten die "Falken" eine Tradition jährlicher Gedenkveranstaltungen, die bis in die Gegenwart Bestand hat. In dem Bewusstsein, dass ein friedliches Zusammenleben in einer offenen und demokratischen Gesellschaft nur in strikter Abgrenzung zum "Dritten Reich" möglich ist, entstand in Gelsenkirchen eine lebendige Kultur der Erinnerung. In der Stadt gibt es heute eine vielfältige Landschaft von Erinnerungsorten, an denen sich die städtische Gesellschaft mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit auseinandersetzt.

Neue Synagoge
Gedenkort für die aus Gelsenkirchen deportierten Mitglieder der Jüdischen Gemeinde, 2008, [ISG]